Der dritte Themenbereich, den ich anschneiden will, ist die Rolle von GedŠchtnis und Erinnerung. Nun, wie Sie vielleicht wissen, hat sich die GedŠchtnisforschung in den letzten 20 Jahrem zum boom, zur memory industry entwickelt. Das Gute dabei ist, dass sie interdizplinŠr und weitgehend undogmatisch ist. Doch, wie Ÿberall, gibt es auch Schwachpunkte, denn viele Binsenwahrheiten oder lŠngst Bekannteswie z.B. ãdie Vergangenhheit reicht in die Gegenwart hineinÓ usw. – werden einfach mit Hilfe neuer Terminologie recycled. Ich will mich aufs Positive konzentrieren und kurz andeuten, welche Perspektiven sich fŸr die Aeneis aus dieser Richtung ergeben.

 

Memoria in Rom war keine Abstraktion, sondern ein konkreter Begriff, der uns auf allen Gebieten der ršmischen Kultur begegnet. Ršmische Geschichte wird z.Bsp. definiert als memoriam conservare und monumenta sind schon von der Etymologie her Erinnerungsorte, lieux de mémoire. Daher ist es kein Zufall, dass Vergil im Musenanruf, den er um 8 Verse aufschiebt, nicht einfach das homerische ennepe oder aeide Ÿbernimmtcano hat er bereits vorweggenommen, wohlgemerkt in der ersten Person, wiederum im Gegensatz zu Homer. Stattdessen sagt er, ÒMuse, ruf mir ins GedŠchtnisÓ und kŸndigt damit die grosse Rolle an, die GedŠchtnis in seinem Epos spielen wird. Als individuelle Komponente, individual memory, hat er Erinnerung bereits im Bezug auf Juno erwŠhnt: memorem Iunonis ob iram. Sie kann nicht vergessen. Vergessen ist die Kehr-, oder besser ausgedrŸckt, komplementŠre Seite von Erinnerung und GedŠchtnis, und auch das ist ein wichtiges Thema, das zur Aeneis gehšrt. Der dritte Hinweis auf Erinnerung am Anfang der Aeneis kommt knapp 200 Verse spŠter vor und erweitert die beiden anderen um eine weitere Komponente: olim et haec meminisse iuvabit (1.203). Nicht alles Schlimme soll man vergessen, denn UmstŠnde Šndern sich. Man kann diesen vielzitierten Vers auch im Licht der neuropsychologischen GedŠchtnisforschung betrachten: unser GedŠchtnis ist keine Festplatte oder eine einfache Aufzeichnung der Vergangenheit. Vielmehr ist es ein komplexes Konstrukt von GedŠchtnisaspekten, die in verschiedenen Teilen unseres Gehirns gespeichert sind, um dann mit Merkmalen (features) Šhnlicher Erinnerungen vermischt zu werden, zusammen mit Emotion und moralischer Bewertung. Das GedŠchtnis bzw. die Erinnerung Šndert sich dauernd und das wei§ auch Aeneas.

 

Wie Ÿblich, einige Stellenbeispiele und dann das Gesamtkonzept.  Erinnerungen — das wissen wir auch von Zeugenaussagendifferieren.  Sie sind Konstruktionen und Rekonstruktionen.  Ein bewusst eklatantes Exempel in der Aeneis sind die divergierenden Vorstellungen von Latinus und Euander Ÿber die sogenannte goldene Urzeit in Latium.  Gleich am Anfang seines Willkommensgru§es an die trojanischen Botschafter im Buch 7 prŠsentiert Latinus seine Vorfahren als

Saturni gentem haud vinclo nec legibus equam,

sponte sua veterisque dei se more tenentem (203f.)

Es ist GedŠchtnis– und Erinnerungssache (Unterschied?): atque equidem memini fŠhrt er fort. Er habe von Auruncos senes gehšrt, dass Dardanus aus Phrygien in Italien ankam.  Reine GedŠchntisgeschichte: er konstatiert, dass fama — von fari, was gesagt wird in der oral tradition — im Laufe der Jahre (annis) immer undurchsichtiger (obscurior) wird.

 

Im folgenden Buch erinnert sich Euander an eine andere Tradition.  Die Latiner waren eine raue Mannschaft, a rough bunch, quis neque mos neque cultus erat (316).  Auch die Landwirtschaft kannten sie nicht.  Dann kam Saturn, von Jupiter vertrieben, und

Is genus indocile ac dispersum montibus altis

composuit legesque dedit.

Das fŸhrte schon zu aurea saecula, aber wohlgemerkt nur nach EinfŸhrung der legesim traditionellen Bild der goldenen Zeit brauchte man solche nicht, wie auch Latinus behauptete.  Das auch im Zusammenhang mit der Modifizierung des Konzeptes des goldenen Zeitalters durch Vergil und Augustus, aber das ist eine andere Sache. Hauptsache hier ist: ganz verschiedene Erinnerungen. Unmšglich zu sagen, mit Leopold von Ranke, wie es wirklich war. Nur mit GedŠchtnisgeschichte, die den Erinnerungen der Leute nachgeht, kommen wir hier weiter.

 

Ein anderer, krasser Erinnerungsfall ist Andromache in Buch 3.  Sie kann sich von ihren Erinnerungen nicht lšsen.  Sie lebt in ihnenbuchstŠblich, denn, und Aeneas traut seinen Augen nicht, sie und Helenus haben eine Replik von Troja aufgebaut, eine Art Disneyland Troja. Aeneas hšrte davon zuerst durch incredibilis famawiederum ein Beispiel von word of mouth – und die bewahrheitet sich dann.  Das Thema, das angeschnitten wird, ist das der richtigen Balance zwischen Erinnern und Vergessen.  Es ist auch ein viel diskutiertes Thema in der modernen GedŠchtnisforschung und -literatur.  Und das in allen Bereichen, einschlie§lich des klinischen.   Andromaches ObsessivitŠt mit der Vergangenheit ist patholologisch.  Schon zu seinen Zeiten, lange vor den neuen Einsichten, die wir jetzt dank neurobiologischer GedŠchtnisforschung haben, formulierte Nietzsche es brisant: ãEs muss eine Grenze geben, wo die Vergangenheit vergessen werden muss, andernfalls wird sie der TotengrŠber der Gegenwart  Ein sehr aktuelles Problem, wie wir alle wissen (s. Christian Meiers anregende Meditation Ÿber dieses Thema).  Von GeschichtsbewŠltigung kann in Andromaches Fall nicht die Rede sein.  Sie hat alles noch miterlebt, aber das trifft auch auf Aeneas zu, und seine Reaktion ist nach vorne gerichtet, und nicht in die Vergangenheit.  Das ist nicht gerade einfach: vitamque extrema per omnia duco, aber, bewusst von Vergil gewŠhlt, vivo (3.315).  Implicite, hat Andromache sich, in den Termini Nietzsches, bereits begraben.  Und so lautet es auch in AeneasÕ Abschiedsworten (493-5):

vivite felices, quibus est fortuna peracta

iam sua

euer Leben ist schon vorbei, passŽ, wohingegen

nos alia ex aliis in fata vocamur.

Und dann: vobis parta quies.  Das hšrt sich wie eine Grabinschrift an:

Requiesca(n)t In Pace.

 

Ob es eine Charakterentwicklung, a character development, im modernen Sinne bei antiken Schriftstellern wie Vergil gibtdarŸber ist viel gestritten worden.  Mir scheint das nicht so, aber es hŠngt, wie immer, von der Definition ab.   Ich wŸrde sagen, dass es, wie im Fall von Achilles und der Protagonisten der griechischen Tragšdie, wie z.B. …dipus, die Einsicht und das Erkennen sind, die sich auch bei Aeneas entwickeln.  Als ihm der Tod im Seesturm droht, gehen seine Gedanken sofort in die Vergangenheit zurŸck: ich hŠtte vor Trojas Mauern im Kampf fallen sollen - ante ora patrum ist VergilÕs Zusatz zum homerischen Modell (Aen. 1.95).  In Buch 3 wei§ er, dass er nicht in die Vergangenheit zurŸck kann.  Allenfalls kann er hoffen, in Italien eine modifizierte Erinnerungslandschaft aufzubauen, die Italer und Trojaner einschlie§t.  Freilich ist Juno, wie eine Frau Sarrazin der Aeneis, mit diesem Integrationsmodell nicht einverstanden, und ich werde am Ende meiner AusfŸhrungen noch kurz daruf zurŸckkommen.

 

Noch zwei kurze Belege, von so vielen, zur Rolle der Erinnerung in der Aeneis.  Sie sind markant platziert und schlagen einen Bogen zu anderen, die wir bereits diskutiert haben.  Erstens: Der Anfang der zweiten AeneishŠlfte, Buch 7.1-4.  Wiederum ist der Musenanruf aufgeschoben und die memoria fŸr die nutrix Caeta ist das eigentliche proem in the middle.  Kurz gesagt beginnt Aeneis 7-12, das maius opus, mit einem Akt des Gedenkens oder GedŠchtnisses oder der Erinnerung.  Und, wie beinahe schon zu erwarten – und zweitenseine bedeutender Bezug auf die Erinnerung am Ende der zweiten HŠlfte und des Werkes Ÿberhaupt: wenn Aeneas, ganz anders als homerische Helden, zšgert, den Turnus zu tšten, sieht er das WehrgehŠnge des Pallas: saevi monimenta doloris und diese Erinnerung ist entscheidend fŸr ihn so zu handeln, wie er das dann macht.

 

Es ist kein Zufall, dass die Aeneis von memoria durchdrungen ist.  Denn, um es generell auszudrŸcken, kann man die Aeneis zu Recht von der GedŠchtnisperspektive her als die poetische Konstruktion des ršmischen kulturellen GedŠchtnisses und damit auch der ršmischen IdentitŠt ansehen.  Vergil hat das auf seine Art und Weise gemacht, aber es ist kein Wunder, dass Augustus sehr am Fortschritt dieses opus interessiert war und dass es sofort unglaubliche Resonanz hervorrief.  Und natŸrlich ist es auch ein gutes Beispiel, dass die Impulse der GedŠchntisforschung fŸr die Vergilforschung und -interpretation einen wesentlichen und bedeutenden Beitrag leisten und in neue Richtungen fŸhren kšnnen. Denn was ich hier kurz angerissen habe, ist nur ein Anfang.